Jede
Nacht, seit einer Woche, beobachteten die Einwohner der kleinen Stadt die
flackernden Lichter über dem Horizont. Die Erscheinungen hätten Wetterleuchten
oder ferne Gewitter sein können, wenn sie nicht in östlicher Richtung zu sehen
gewesen wären.
Jetzt war das Flackern stärker als jedes
Wetterleuchten, die gelb und orangefarbenen Blitze der explodierenden
Artilleriegranaten und die Flugbahnen der Leuchtspurmunition waren deutlich zu
erkennen. Seit letzter Nacht konnte man auch das dumpf drohende Grollen der
Granateinschläge und das grelle Pfeifen der Stalinorgeln hören.
Seit Tagen und
Wochen waren verwundete Soldaten in endlosen traurigen Kolonnen durch die Stadt
gezogen, zu Fuß oder in Sanitätsfahrzeugen. Leichtverletzte zogen Schwerverletzte
auf Handkarren hinter sich her. Sie klopften an die Türen und fragten nach
Wasser oder etwas Essbarem.
Plötzlich war
der Spuk dieses Elendstrecks verwundeter Soldaten zu Ende. Voller Hoffnung
glaubten die Menschen, die deutsche Front hätte standgehalten, bis bekannt
wurde, es gäbe keine deutsche Front mehr. Die kläglichen Reste der deutschen
Soldaten seien eingeschlossen und würden von den Russen gnadenlos vernichtet.
Es befand sich kein Hindernis mehr zwischen den Russen und der Stadt, und die
Rote Armee war nur noch wenige Kilometer entfernt.
In der Stadt
wohnten vor dem Krieg etwas weniger als fünfzigtausend Menschen, unwichtig aus
militärischer Sicht. Ihr Verhängnis war, der Roten Armee auf ihrem Vormarsch im
Weg zu stehen.
Bereits am
späten Nachmittag des Vortages war ein Lautsprecherwagen der Wehrmacht durch
die Straßen der Stadt gefahren und der Sprecher hatte die Männer vom Volkssturm
und alle anderen Wehrfähigen aufgerufen, sich am nachfolgenden Morgen auf dem
Marktplatz einzufinden. ‘Morgen früh 5 Uhr auf dem Marktplatz’ lautete die
Durchsage. In den Pausen drang fröhliche Marschmusik aus dem Lautsprecher.
Es war fünf Uhr
morgens und noch dunkle Nacht. Ein scharfer Wind fegte über den Sammelplatz und
trieb fallenden Schnee vor sich her. Aber nicht als weiche Flocken, die
prickelnd auf der Haut schmolzen, sondern scharfkantige Eiskristalle, die sich
wie spitze Nadeln in Gesicht und Hände bohrten.
An den
Straßenecken und in den Hauseingängen türmten sich kleine Wehen auf. In jenem
Winter war es bereits Ende September, also ungewöhnlich früh, sehr kalt
geworden, und die Warthe, der Fluss, an dessen Ufern die Stadt lag, war seit
Weihnachten zugefroren. Das Eis war fest, und die Bewohner der Stadt
überquerten mit ihren Pferdefuhrwerken den Fluss.
Etwa fünfzig
Männer hatten sich auf dem Platz neben dem Dom eingefunden und waren in einer
unmilitärisch schiefen Linie angetreten. Die meisten von ihnen trugen die
Armbinde des Volkssturms, aber auch jene ohne Armbinde waren als wehrfähig
eingestuft und hatten sich auf den Sammelplatz begeben. Fast alle waren in
Zivilkleidung, Wintermänteln, Filzhüten mit Krempe, Pudelmützen, fellgefütterte
Winterstiefel oder auch dünne Halbschuhe. Viele waren Brillenträger, und die
Gläser waren vom Schnee dick verkrustet. Sie hatten handgestrickte Handschuhe
an und wollene Schals um den Hals geschlungen. Nicht alle besaßen Schals oder
Mützen, und viele der Mäntel und Schuhe waren wenig geeignet für den Schnee und
die beißende Kälte an jenem frühen Morgen.
Einige der
Männer gingen an Krücken, hatten von Blut rot verfärbte Verbände um den Kopf
gewickelt, oder es fehlte ihnen ein Arm oder ein Bein. Die leeren Ärmel der
Mäntel hatten sie in die Manteltaschen gesteckt, die leeren Hosenbeine nach
oben geschlagen und mit großen Sicherheitsnadeln festgesteckt oder mit Bändern
umbunden. Die Verwundeten trugen Uniformmäntel der Wehrmacht. Sie waren auf dem
Rückmarsch von der Front in der Stadt zurückgeblieben, weil es nicht genug
Transportfahrzeuge gab, weil sie zu müde waren, weiter zu laufen, weil sie sich
in ihr Schicksal ergeben hatten und nicht mehr weitergehen wollten.
Die verwundeten
Soldaten waren noch jung, kaum zwanzig Jahre alt, oder nur wenig älter. Die
Männer vom Volkssturm waren über fünfzig Jahre, und einige der Älteren mussten
gestützt werden. In der Reihe der Erwachsenen standen auch einige Jungen,
vielmehr Kinder, vielleicht vierzehn Jahre alt. Sie trugen auch Uniformen, die
ihnen zu groß waren und in die sie in diesem Krieg nicht mehr hineinwachsen
würden. Sie hatten Angst und einer von ihnen weinte und versteckte sich hinter
seinen Kameraden, wollte niemandem seine Tränen zeigen.
Ein paar
hölzerne Karren standen vor der Linie. Die unrasierten Gesichter der Männer
waren grau von Kälte und den beißenden Eiskristallen, die durch jedes
Knopfloch, durch jeden Ritz ihrer Kleidung bis auf die Haut drangen. Sie
kannten sich, es war eine kleine Stadt. Sie waren Nachbarn und gemeinsam zum
Sammelplatz gegangen. Sie redeten nicht miteinander, auch nicht die üblichen
Durchhalteparolen wollten ihnen über die Lippen kommen.
In der Reihe
stand ein Mann, der sich Vorwürfe machte, nicht auf seine Frau gehört zu haben.
Sie hatte geweint und gesagt: »Geh nicht dort hin, lass uns weggehen, noch ist
es Zeit. Denk an unser Kind.« Der Mann wollte nicht zum Sammelplatz gehen, aber
er fürchtete sich, den Befehl zu verweigern, welcher den ganzen gestrigen
Nachmittag über den Lautsprecherwagen ausgerufen worden war. Wenn es morgens
hell wurde, sahen die Passanten auf dem Marktplatz die Unglücklichen an den
Laternen hängen, die nachts hatten flüchten wollen. Ein Standgericht der SS
hatte sie auf dem Marktplatz zur Abschreckung aufgehängt. Oft hängten sie
Männer am helllichten Tag auf, weil sie sich Zuschauer wünschten, und die
SS-Schergen hängten sie in einer Weise, die langsames Sterben bedeutete. Nie
versuchte einer der Zuschauer zu helfen. Es war so wie immer. Da war das Opfer,
manchmal um Hilfe bettelnd, seine Henker in ihren schwarzen Uniformen und den
Totenköpfen an den Helmen und die unbeteiligten Dritten, die Zuschauer, voller
Selbstverachtung, sich widerlich vorkommend, weil sie nicht halfen, glücklich,
nicht betroffen zu sein.
Die Zuschauer
rannten in die Seitenstraßen, bemüht, nicht hinzusehen, wie die noch immer
Lebenden an den Laternen zappelten, wie ihnen der Kot an den Beinen runter lief
und über die Schuhe auf die Erde tropfte – und sie mussten trotzdem hinsehen.
Der Mann wollte
nicht und musste dennoch hingehen. Seine Frau hatte ihn am Mantel festgehalten
und verzweifelt angefleht: »Du wirst sterben, wenn du hingehst.« Sie hatte sich
in seinen Mantel gekrallt, versuchte, ihn mit Gewalt daran zu hindern, zum
Sammelplatz zu gehen. Das Kind war von ihrem Streit wach geworden und weinte.
Sie riss den Jungen aus dem Bett und hielt ihn ihrem Mann hin: »Sieh deinen
Sohn an. Willst du ihn alleine lassen?« Der Mann antwortete ruhig: »Ich muss
gehen, ohne mich seid ihr besser dran, ich bringe dich und den Jungen nur in
Gefahr, wenn ich bleibe. Wo ich sterben werde, ist egal. Ohne mich hast du mit
unserem Jungen noch eine Chance«, und hatte sie sanft, um ihr nicht wehzutun,
abgeschüttelt, umarmte sie gegen ihren Willen zum Abschied, küsste sie auf die
Stirn und wollte gehen. Voller Panik, alleine zu bleiben, versperrte sie mit
ihrem Körper die Wohnungstür und es kam zu einem Gerangel. Der Mann hatte keine
Wahl, er musste sie zur Seite schieben, und er tat es so sanft wie möglich,
aber sie fiel trotzdem zu Boden. Regungslos saß sie auf dem Boden neben der
Tür, ihr Gesicht kreideweiß und von Schweiß und Tränen überströmt und mit weit
aufgerissenen Augen starrte sie ihren Mann an. Ohne einen Blick zurück verließ
er die Wohnung.
Jetzt dachte er
an sie und an sein Kind und bereute, nicht auf seine Frau gehört zu haben.
Vor der
angetretenen Truppe stand ein alter Feldwebel der Wehrmacht, älter als die
meisten der Männer vor ihm. Er trug einen vom langen Krieg zerschlissenen und
dreckverkrusteten Uniformmantel. Seinen Kopf hatte er mit einem grauen Schal
umwickelt, darüber trug er als Einziger einen Stahlhelm.
Die Leute von
der Partei und der Stadtkommandant hatten ihm befohlen, Landsberg, das war der
Name der kleinen Stadt, gegen die heranrückenden Bolschewiken, so nannte der
Stadtkommandant die Soldaten der Roten Armee, mit den Männern des Volkssturms
zu verteidigen.
Der alte
Feldwebel war genauso müde und halb erfroren wie die Männer, und er hatte wie
sie seit Längerem keine warme Mahlzeit mehr gegessen. Er betrachte die
unmilitärische Linie der angetretenen Männer vor sich, er sah die Holzwagen,
die später dazu dienen sollten, die Verwundeten und die Toten aus der Kampfzone
wegzuschaffen. Er sah die Waffen, die man ihm zur Verteidigung der Stadt
überlassen hatte. Ein leichtes Maschinengewehr mit zwei Munitionsgurten. Er
selbst hatte seine Pistole, eine P08, und über der Schulter trug er einen
Karabiner. Die Pistole war geladen, aber er hatte keine Reservemunition mehr.
Für den Karabiner gab es schon seit Wochen keine Patronen mehr. Die meisten
angetretenen Männer trugen einen Spaten mit kurzem Stiel im Gürtel. Mit diesem
Werkzeug hatten sie in den vergangenen Tagen Schanzarbeiten am Stadtrand
verrichtet.
Der
Obersturmbannführer der SA hatte den Feldwebel zum Rapport in sein Büro
befohlen. Als dieser das Büro betrat, fiel sein Blick auf das Bild des Führers,
welches an der Wand hinter dem Schreibtisch hing. Daneben stand schräg an die
Wand gelehnt eine Hakenkreuzstandarte mit dem Adler auf der Spitze der Stange.
Es roch nach frischem Kaffee und gutem Essen. Der Obersturmbannführer saß
hinter einem riesigen Schreibtisch und hielt dem Feldwebel einen Vortrag,
faselte von Volk, Führer und Vaterland. Er war noch ein junger Mann, halb so
alt wie der Feldwebel und etwas dicklich. Die Knöpfe seiner sauberen und gut
gebügelten braunen Uniform spannten über dem Bauch. Seine Augen waren wässerig
von übermäßigem Alkoholgenuss.
Er bot dem
Feldwebel keinen Stuhl an, was dieser jedoch nicht bedauerte. In Gedanken war
er bei einer ganz anderen Nachricht, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen
wollte und die er gestern mit großer Verspätung erhalten hatte. Seine Frau und
seine Mutter waren vor zwei Monaten bei einem Bombenangriff in Hamburg ums
Leben gekommen, daran dachte er, als er den Obersturmbannführer vor sich sah.
Er dachte auch an seine beiden Söhne, die in Stalingrad gefallen waren,
verreckt im Dreck für Führer und Vaterland.
Die Männer des
Volkssturms, so schnarrte ihn der Obersturmbannführer an, wobei er den Tonfall
des Führers zu kopieren versuchte, sollten zuerst Gräben ausheben, später mit
ihren Spaten die heranstürmenden Russen erschlagen und ihnen die Waffen
abnehmen. Der Feldwebel hatte nicht gefragt, wie er diesen Befehl mit einer
Handvoll alter und vor Kälte und Hunger erschöpfter Männer ausführen sollte.
Was hätte der Obersturmbannführer schon geantwortet? Wahrscheinlich, ein
Deutscher, sei er auch alt und verhungert und nur mit einem Spaten bewaffnet,
könne zehn oder mehr schwer bewaffnete Rotarmisten totschlagen. Er hatte dieses
Gefasel schon so oft gehört, er konnte es nicht mehr anhören und fragte lieber
nicht.
Als der
Feldwebel meinte, der Obersturmbannführer hätte alles gesagt, hob er mit
gekrümmten Fingern seine rechte Hand in die Nähe seiner Stirn und ließ sie mit
steinernem Gesichtsausdruck einen Moment dort in der Luft hängen. Mit seinen
Gedanken war er in Hamburg, bei seiner Frau und seiner Mutter, die er nun nie
mehr wiedersehen würde.
Der
Obersturmbannführer schnarrte ihn in seiner Hitler-Imitation an: »Haben Sie den
Deutschen Gruß verlernt?« Ebenso schnarrend antwortete der Feldwebel: »Nein,
Obersturmbannführer, wie könnte ich den je verlernen.« Er drehte sich um und
verließ den Raum, unfähig weiter im selben Raum mit diesem Mann bleiben zu
können. Angst hatte er keine mehr, er war nur noch verzweifelt und unendlich
müde.
Der Mann, der
gegen den Willen der Frau zum Sammelplatz gekommen war, stand dem Feldwebel
gegenüber. Dieser sah ihn an, und für einen Augenblick traf sich ihr Blick. Sie
waren sich bisher nie begegnet, aber in diesem Augenblick wusste jeder, was der
andere gerade dachte: ‘Wir werden hier sterben.’
Der Feldwebel
jedoch fasste einen Entschluss. Er trat noch näher an die Männer heran und
deutete ihnen an, einen Kreis um ihn zu bilden.
Dann sagte er:
»Männer, was ich euch jetzt sage, ist ein Befehl, auf den ihr euch jederzeit
berufen könnt, wenn euch jemand aufhält. Ihr geht jetzt nach Hause, der Krieg
ist für euch zu Ende. Kümmert euch um eure Frauen und Kinder. Nehmt Decken und
so viele Lebensmittel wie ihr tragen könnt und geht zum Bahnhof. Heute Morgen
sind zwei Personenzüge aus Küstrin angekommen und das sind die letzten Züge,
die diese Stadt verlassen werden. Ihr solltet spätestens mittags 13 Uhr auf dem
Bahnhof sein. Die Züge fahren heute am späten Nachmittag zurück nach Küstrin,
dort über die Oder und weiter Richtung Westen, weg von der Front und weg von
den Russen. Ihr braucht keine Angst zu haben, es wird euch niemand sehen, wenn
ihr jetzt geht. Auch auf dem Bahnhof wird euch niemand sehen. Die von der
Partei, der Stadtkommandant und auch die SS haben die Stadt gestern Abend
verlassen. Ich wünsche euch viel Glück.« Einen Moment sah es so aus, als ob der
Feldwebel militärisch grüßen wollte. Aber er hob nur die Hand und es wurde so
etwas wie Winken daraus und er lächelte dabei.
Die Männer sahen
sich ungläubig an, flüsterten leise miteinander. Konnte das wahr sein, durften
sie nach Hause gehen?
Einige hoben
halbherzig und mehr aus Gewohnheit den rechten Arm zum Hitlergruß, ließen ihn
jedoch rasch wieder sinken und sagten nichts. Der Feldwebel kehrte sich ab,
kämpfte sich gegen das Schneetreiben vorn über gebeugt quer über den Platz und
verschwand in einer schmalen Gasse. Das war sein letzter Befehl in diesem Krieg
gewesen, und er wusste das. ‘Die Feldjäger werden mich finden’. Es war ihm
egal, er hatte keine Angst mehr. Er war nur noch müde.
Die Männer
zerstreuten sich rasch, die kleinen Holzwagen nahmen sie mit. Bald war der
Platz menschenleer, und nach wenigen Minuten hatte der wirbelnde Schnee ihre
Fußspuren zugeweht.
Von diesen
Ereignissen erzählte viele Jahre später Roberts Vater. Es muss sich am 30.
Januar 1945 so zugetragen haben. Am gleichen Tag verließen sie Landsberg mit
dem Zug.