Leseprobe aus Grenzgänger
Oma und Opa wohnten auch in Güstrow, sie waren vor uns geflüchtet. Opa hatte ein Holzbein, das war sein August. Er hatte sein Bein nicht im Krieg verloren, das hatte man ihm amputiert, als er noch ein kleiner Junge war. Deshalb war sein August beinahe wie ein Körperteil von ihm und er konnte gut damit laufen.
Opa hatte immer ein paar Zigarren bei sich, wenn er in die Kommandantura der Russen ging. Er durfte regelmäßig nach Westberlin fahren, die Reisegenehmigungen hat er sicher mit Zigarren bezahlt. Dort wohnte eine meiner Tanten, die alles besorgte, was man im Osten nicht bekam, vor allen Dingen Medikamente. Und das alles transportierte Opa dann im Hohlraum seines hölzernen Beines von West nach Ost. Als er einmal noch Platz in seinem August hatte, brachte er uns Bananen mit. Das war ein großes Ereignis - Bananen aus Opas Holzbein!
Opa war überhaupt ein großer Organisator. Egal was gebraucht wurde, Bindfaden, Schuhsohlen,
Nägel, Bezugsscheine für Kleidung - Opa besorgte alles. Und oft bekam er von den Russen, was er brauchte. Er war mit den Russen gut befreundet. Opa hob alles auf, er warf nichts weg. Kein Bindfaden war zu kurz und kein Nagel war krumm genug - er warf nichts weg. Ich habe viel von Opa gelernt, ich kann auch nichts wegwerfen.
Opa beschaffte mir auch viele in der DDR verbotene Bücher, ohne zu ahnen, welche Saat er damit bei mir legte. Das waren Bücher von Jack London, Joseph Conrad, Stevenson, Graf Luckner, Karl May - alle verboten und deshalb sehr beliebt. In der Schule hatten wir einen Buchtauschring organisiert und Mitglied wurde nur, wer als verschwiegen galt. Von dem Tauschring wussten auch unsere Eltern nichts. Uns Jungen konnte nicht viel passieren, unseren Eltern schon, wenn unsere Lehrer bemerkt hätten, was für Bücher wir lasen. Es ist aber nie was durchgesickert. Auch mein bester Freund Werner hat seinen Eltern gegenüber geschwiegen und über dessen Vater sagte meine Mutter einmal, er sei ein in der Wolle gefärbter Roter.
In der Schulbücherei fand ich auch interessante Abenteuergeschichten aus Russland, von Pelzjägern und Fallenstellern in Sibirien, Geschichten, die mich nicht weniger begeisterten, als die Bücher, die mir Opa in seinem August mitbrachte. An den Ufern des Sewan habe ich in jener Zeit gelesen.
Meine Großeltern hatten zwei Gärten, einen großen hinten an der Goldberger Chaussee, einen kleinen hinter dem Haus. Im großen Garten wuchs fast alles, was wir zum Leben brauchten. Die Hühner, Enten und Küken hatte sie in ihrem kleinen Garten hinter dem Haus. Sie tastete die Hühner, steckte ihnen ihren krummen, gichtigen Zeigefinger in den Hintern und wusste deshalb immer, ob bald ein Ei fertig sei. Dann wurde das Huhn im Stall eingesperrt, damit es das Ei nicht beim Nachbarn legte.
Opa erzählte mir auch viele Geschichten vom Räuber Mack. Der Räuber Mack war früher in den pommerischen Wäldern umhergezogen und hat sich an die hübschen Mägde der einsamen Bauernhöfe herangemacht. Oma hat immer sehr geschimpft, wenn Opa mir vom Räuber Mack erzählte und was der mit den Mägden gemacht hat. Das meiste habe ich nicht verstanden, das waren immer so komische halbe Sätze und an vielen Stellen sagte er nur: ›Hum‹ ›Hum‹ ›Hum.’
Opa und Onkel Günter brauten aus Johannisbeeren und Stachelbeeren Wein, aus dem sie dann Schnaps brannten. Das war ein übles Zeug, und einmal ist mir furchtbar schlecht davon geworden, denn ich durfte immer probieren.
Sie tauschten davon aber wenig gegen Lebensmittel, das meiste tranken sie selbst. Wenn sie dann sehr lustig waren, marschierten sie um den Wohnzimmertisch, sangen Lieder, formten ihre Hände zu Trompeten und trompeteten wie ein ganzes Blasorchester. Opa konnte gut marschieren mit seinem Holzbein und dabei eine Trompete oder Posaune nachmachen.
Oma hielt mir die Ohren zu, damit ich nicht hörte, was die Beiden für Lieder sangen. Sie schüttelte drohend ihren krummen gichtigen Zeigefinger und schimpfte: »Der liebe Gott wird euch strafen!«
Onkel Günter züchtete Kaninchen und an hohen Feiertagen gab es bei uns immer Kaninchenbraten. Später, als wir in West-Deutschland lebten und dort das Wirtschaftswunder ausbrach, war Kaninchenbraten plötzlich ein Arme-Leute-Essen. Für mich ist Kaninchenbraten auch heute noch ein Festessen.
Wenn Onkel Günter ein Kaninchen schlachtete, dann schlug er dem Tier erst mit einem Stück Holz in den Nacken und dann, einfach ratsch, schnitt er ihm die Kehle durch. Dann war Onkel Günter krank und der Nachbar sollte ein Kaninchen für Oma schlachten. Der hat kein Stück Holz genommen, sondern hat dem Tier einfach mit der Handkante in den Nacken geschlagen. Mann, was hat das Viech gequiekt, als es ratsch machte. Aber geschmeckt hat der Braten trotzdem.
Der 1. Mai war so ein wichtiger Feiertag, wichtiger als Weihnachten. Die VEB, die Volkseigenen Betriebe, jetzt gehörte ja alles den Werktätigen, organisierten Umzüge in der Stadt. Es wurden viele Fahnen an den Wagen befestigt, sowjetische Fahnen mit Hammer und Sichel, oder ganz rote. Die Wagen wurden von Treckern durch die Stadt gezogen. Es gab auch einen Musikwagen, auf dem fuhr mein Vater mit, denn er spielte Geige. Die Musikanten auf dem Musikwagen spielten aber nicht lange, waren schnell sehr lustig und sangen dann nur noch. Abends gab’s Kaninchenbraten, weil es ja ein Feiertag war. Den aß ich nur mit meiner Mutter, Oma und Tante Irmchen. Alle anderen schliefen schon. Oma sagte: »Heute essen wir alles auf, für diese Suffköppe lassen wir nichts übrig.«
Weil Holz und deshalb auch warmes Wasser knapp war, wurde nur samstags gebadet. Wenn wir alle gebadet hatten, scheuerte Oma mit dem Badewasser den Holzfußboden, bohnerte und legte große Pappenstücke auf den Boden. Wir durften nur auf der Pappe laufen, nicht links oder rechts daneben. Sonntagmorgen räumte Oma die Pappe weg und es war den ganzen Sonntag sauber.
Sonntags rasierte Opa sich mit einem Rasiermesser. Das schärfte er erst an einem Lederriemen. Dann zog er seinen guten Anzug mit Weste an und band sich eine Krawatte um. Den Anzug hatte er bei einem Landstreicher gegen Schnaps eingetauscht. Oma hatte den Anzug gewaschen, auseinander getrennt, gewendet und wieder zusammengenäht. »Fast wie neu, das ist englischer Stoff«, sagte Opa voller Stolz.
Wir saßen dann alle im Wohnzimmer um den großen ovalen Tisch herum und aßen. In der ersten Zeit gab es nur Kohlsuppe oder Suppe aus Zuckerrüben, aber Opa trug seinen englischen Anzug und Oma hatte ihr blaues Blümchenkleid mit Spitzenkragen an. Später dann, als die Kaninchen von Onkel Günter sich gut vermehrten, gab es oft Kaninchenbraten und hin und wieder auch Hühnerbraten. Hühnerbraten gab es selten, die Hühner mussten vor allen Dingen ihr ganzes Leben lang Eier legen. Wir fingen auch Fische in einem der Seen, aber das war illegal, denn Angeln war verboten.
Onkel Günter war im Krieg in einen Giftgasangriff geraten und hatte von dem Gas eingeatmet. Es war nicht genug Gas, er starb nicht. Aber er sprach sehr leise und irgendwie knarrend und krächzend, wie eine nicht geölte Tür, und er hustete sehr viel. Oft blieb er morgens im Bett liegen, er hatte auch keine Arbeit. Tante Irmchen sagte immer: »Der pfeift aus dem letzten Loch, der ist zu nichts mehr zu gebrauchen.« Sie guckte dabei triumphierend in die Runde, so als ob sie etwas sehr Wichtiges gesagt hätte. Oma wurde dann richtig böse und schimpfte: »Irmchen, du bist ein garstiges Weib und rot bist du auch, du bist unsere rote Irmgard.« Bloß weil meine Tante in der SED war.
Onkel Günter starb dann auch bald. Sicher, weil er zu nichts mehr zu gebrauchen war.
Weil Tante Irmgard immer so schlecht über ihn geredet hatte, war sie verantwortlich für seinen Tod. Ich habe ihr zwei Frösche in die Schuhe gesteckt, in jeden Schuh einen. Sie hat so geschrien, dass wir schon glaubten, sie sei auch tot. Zur Strafe zertrümmerte meine Mutter auf mir einen Handfeger und einen hölzernen Küchenlöffel.
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